Im großen Spannungsbogen der verschiedenen Zugangsweisen zur Bergpredigt, widmete sich unser Referent Dr. Rainald Tippow der Frage nach Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit. Gemeinsam mit uns Zuhörern und Zuhörerinnen machte er sich auf die Suche nach der tieferen Bedeutung der beiden Begriffe.
Beim gemeinsamen Gang durch die Geschichte erfuhren wir, dass beide immer wieder verschieden ausgelegt und gewichtet wurden. „Es ist nicht dein Gut, mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. … Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.“ Was so sehr nach beginnendem Kommunismus des 19. Jahrhunderts klingt, stammt in Wirklichkeit vom Hl. Ambrosius, also der alten Kirche, und wurde von Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Populorum Progressio 1967 zitiert.
Die mittelalterliche Almosenfrömmigkeit, eine Art organisierte Mildtätigkeit ,brachte sehr viele Pflegeorden hervor; in den entstehenden Spitälern folgte man oft einem ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur auf körperliche Heilung ausgerichtet war.
Im 19. Jahrhundert schließlich kommt die Almosenfrömmigkeit in die Kritik. Ein politisches Handeln wird eingefordert. Zwischen dem Liberalismus und aufkommendem Kommunismus steht dabei 1891 die Sozial – Enzyklika Leo des XIII., der Kritik übt an einer herablassenden „Charity“.
Weiters erfuhren wir, dass Barmherzigkeit von den Griechen der Antike, aber auch von den Nationalsozialisten als eine Schwäche betrachtet wurde.
Interessant der hebräische Ausdruck für Barmherzigkeit (Chaesaed): es ist das bundesgemäße Verhalten Gottes, es ist Gnade, Güte und Zuwendung, hat aber auch eine Rechtsdimension. Es ist ein Beziehungsgeschehen. Gott wird als gerecht und barmherzig beschrieben. Der Mensch hingegen vollzieht sein Mensch – Sein durch Barmherzigkeit. Letztendlich sind Barmherzigkeit und Gerechtigkeit die zwei Seiten der selben Münze.
Was ist nun die “ größere Gerechtigkeit “ Jesu? Im Streben nach Barmherzigkeit und Gerechtigkeit findet sich letztlich der Schlüssel für ein gutes und gerechtes Leben aller Menschen, das auf dem Fundament der Personen -Würde ruht.
So sind Barmherzigkeit UND Gerechtigkeit in ihrem Ineinander ein Vorgriff auf das himmlische Jerusalem.